Erwünschte Desinformation? Böses Spiel mit Paragraph §35 BtMG

Ein Richterhammer zerquetscht eine Marihuanablüte

Deutschlands Drogenpolitik ist nicht mehr oder weniger rückschrittlich als die durchschnittliche Drogenpolitik der verschiedensten Länder weltweit. In Sachen Drogenpolitik steht Deutschland nach wie vor unter der Meinungsführerschaft der beinahe vereinten westlichen Welt – und das seit circa Hundert Jahren. Unterschiede gibt es in den vielen Cannabis-Verbots-Ländern vor allem in der konkreten Umsetzung – und die ist in Deutschland besonders gerissen. Bevor es um den eigentlichen Gegenstand des Artikels, nämlich §35 BtMG, geht, möchte ich jedoch mithilfe eines historischen Rückblicks noch einmal aufzeigen, unter welch denkbar ungünstigen Umständen sich die Nationen – und vor allem Deutschland – in die unangenehme Situation der Prohibitionspolitik gebracht haben. Denn klar ist: in Zeiten von Legalisierungsbewegungen und immer neuen Studien wird es für die Bundesdrogenbeauftragte von Tag zu Tag schwieriger, das Drogenverbot weiterhin zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten.     

1911 tagte die erste internationale Opiumkonferenz, auf der das weltweite Verbot von Opium ersonnen wurde. Als Deutschland den Ersten Weltkrieg verlor, musste der Verliererstaat als eines der ersten Länder ein Verbot gegen Opiate und Kokain erlassen – so war es im Versailler Vertrag vorgesehen. Diesen Punkt brachte die „Internationale Vereinigung für den Kampf gegen das Opium in Peking und England“ in den Friedensvertrag ein. Das eigentliche Cannabisverbot in Deutschland folgte erst am 10. Dezember 1929, also etwa zwei Monate nach dem „Black Friday“, dem Ausbruch der internationalen Weltwirtschaftskrise. Das ist deshalb ein interessanter Zusammenhang, weil die USA als Auslöser dieser internationalen Krise den Deutschen Kredite gegeben hatten, damit das Verliererland des Ersten Weltkriegs seine Reparationsschulden gegenüber Frankreich, England, Italien und Belgien bezahlen konnte. An die USA musste Deutschland also gar keine Reparationen bezahlen, jedoch war die USA an den Reparationszahlungen Deutschlands an die eben aufgezählten Länder interessiert, da diese noch hohe Schulden bei den Nordamerikanern hatten. Deutschland wurden nach dem Black Friday sämtliche Kredite seitens der USA gestrichen, zudem forderten die USA die sofortige Tilgung der bereits bestehenden Schulden. Die USA brauchten unbedingt Kapital, Deutschland konnte aufgrund seiner Abhängigkeiten nur klein beigeben. Außenhandelseinbrüche und hohe Arbeitslosenzahlen traten ein. Das deutsche Volk sah sich einer deprimierend ausweglosen Situation ausgesetzt. 1929 war Deutschland nicht nur durch die Weltwirtschaftskrise geschwächt, sondern auch durch die instabilen Regierungen der vorangegangenen Jahre und der damit verbundenen, zunehmenden sozialen Unsicherheit der Bevölkerung. Im Jahr 1929 stand Deutschland außen- und innenpolitisch unter hohem Druck, da die Regierung um Senkung der jährlichen Reparationszahlungen verhandelte. Schon Mitte 1929 war Deutschland am Ende jeden Monats mehr oder weniger zahlungsunfähig, dementsprechend hofften vor allem die Sozialdemokraten auf ausländische Kredite, um ihre sozialen Programme auch ohne hohe Steuererhöhungen noch finanzieren zu können. Drogenpolitik war in diesen Zeiten sicherlich nicht das größte Problem in der Weimarer Republik, weshalb das Verbot von Cannabis als Mittel zur Förderung der internationalen Beziehungen beschlossen wurde. Im damaligen Parlament mit sage und schreibe zehn Parteien gab es sicherlich keine erweiterten Diskussionen über Sinn und Unsinn eines Drogenverbots. In Anbetracht der Umstände waren sich die beteiligten Parlamentarier sicherlich nicht bewusst, welch weitreichende Entscheidung das Verbot bedeutet. Immerhin werden unter anderem durch diese damalige Entscheidung auch heute noch Millionen von Menschen kriminalisiert!  

Doch egal, unter welchen prekären Umständen Cannabis verboten wurde: heute ist es an der Bundesregierung, dieses Verbot nach wie vor durchzusetzen. Dafür verantwortlich zeichnet sich das Gesundheitsministerium, in dessen Auftrag die Bundes-drogenbeauftragte an einer Strategie zur Senkung des Drogenkonsums und der damit verbundenen Folgen arbeitet. Aufgabe der Bundesdrogenbeauftragten ist zudem die Erstellung des jährlichen Drogen- und Suchtberichts für Deutschland. Und genau an dem Punkt kommen wir zu §35 BtMG. Aber der Reihe nach. Denn die Bundesdrogenbeauftragte Deutschlands, Marlene Mortler, kommentierte den Drogen- und Suchtbericht 2017 in Bezug auf Cannabis mit folgenden Worten: „Keine andere illegale Droge ist so weit verbreitet und keine andere führt so viele Menschen in ambulante und stationäre Therapieangebote.“ Interessant. Laut dem Drogen- und Suchtbericht 2017 weisen 612.000 Menschen in Deutschland ein klinisch relevantes Cannabiskonsum-Muster auf. Über die Zahl, wie viele Menschen sich tatsächlich in Behandlung befinden, schweigt sich der Suchtbericht indes aus. Es fehlt also in dem 182-seitigen Bericht schlicht der Beweis für die zusammenfassende, medienwirksame Aussage von Frau Mortler zur großen Zahl der sich in ambulanten oder stationären Therapieangeboten befindlichen Cannabiskonsumenten.

Trotzdem scheint es in der Richtung eine nicht ganz unbedeutende Zahl zu geben. Jetzt wird es aber richtig interessant: mit Berufung auf §35 BtMG ist es möglich, eine bis zu zweijährige Drogen-Haftstrafe in ein Therapieangebot umzuwandeln. Zum Zweck der Resozialisierung natürlich, schließlich sind Cannabiskonsumenten nach Ansicht unserer Bundesregierung eher schleifende Hindernisse unserer Gesellschaft und verwehren sich am Ende noch den wertvollen, urdeutschen Tugenden wie Disziplin, Gehorsam und Pünktlichkeit. Aber im Ernst: mit §35 ist es für Angeklagte eines BtMG-Vergehens möglich, eine zweijährige Haftstrafe in eine maximal 28-wöchige Therapie umzuwandeln. Ein Schnäppchen? Ich könnte also mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Sachverhalt der Argumentation der Bundesdrogenbeauftragten in die Hände spielt. Dieses Angebot unseres Gesetzgebers würde ich liebend gerne annehmen, wenn ich wegen Eigenanbaus zu einer mehrmonatigen oder sogar zweijährigen Haftstrafe verurteilt würde. Das würde für mich die Aussetzung der Haftstrafe bedeuten (win) und für unsere Drogenbeauftragte einen zusätzlichen Cannabis-Süchtigen, der darum bettelt, geheilt zu werden (win). Wir sehen also eine klassische Win-Win-Situation. Um diesen Sachverhalt wenigstens ansatzweise zu dokumentieren, möchte ich gerne eine Studie des Bundesministeriums für Gesundheit mit dem Titel „Medizinische Rehabilitation Drogenkranker gemäß § 35 BtMG (,Therapie statt Strafe‘): Wirksamkeit und Trends“ aus dem Jahre 2013 zitieren. Ziel der 143-seitigen Studie war es, „Trends der Inanspruchnahme und die Wirksamkeit der stationären medizinischen Rehabilitation gemäß § 35 BtMG zu untersuchen“. Es wurden drei Therapieeinrichtungen untersucht, eine in Hamburg, eine in Schleswig-Holstein und zwei in NRW. In der Einrichtung in Hamburg lag der Anteil der Patienten, die sich aufgrund von §35 in Therapie befanden, im 10-Jahres-Mittel bei 31,2 Prozent. Bei der ersten Einrichtung in NRW lag der Anteil im 10-Jahres-Zeitraum bei 26,7 Prozent. Die Autoren der Studie gehen davon aus, dass sich insgesamt etwa ein Drittel aller therapierten Patienten aufgrund von §35 in Therapie befinden. Ebenfalls interessant: mehr als 30 Prozent der wegen BtMG-Auflagen therapierten Menschen befanden sich aufgrund einer sogenannten Cannabis-Problematik in Therapie. Dieser Ausschnitt der Studie zeigt gut, wie scheinheilig unser System im Grunde ist. Auf der einen Seite werden Drogenkonsumenten öffentlichkeitswirksam zu Kriminellen gemacht, während sie auf der anderen Seite Schlupflöcher zum Umgehen der Haftstrafe erhalten. Dafür bezahlen sie dann jedoch einen hohen Preis, indem sie Prohibitionsbefürwortern wertvolle „Belege“ für ihre Argumentationen liefern. Wer sich für das Thema interessiert, kann ja gern mal in die Studie reinlesen, die unter dem oben angegebenen Titel im Internet sehr gut zu finden ist.

Was bleibt also unterm Strich? Der Kurs der deutschen Drogenpolitik ist im Moment schwerer denn je zu halten. Die große Frage ist jetzt, ob und wann unsere Regierung die Fehler von 1929 endlich einsieht – und vor allem revidiert. Wenn man einmal überlegt, was in den letzten Hundert Jahren alles passiert ist, kann es doch einfach nicht wahr sein, dass ein wichtiges Randthema wie die Drogenpolitik sich nicht weiterentwickeln darf. Doch Abgeordnete wollen wiedergewählt werden, weshalb eine CSU-Abgeordnete wohl auch übermorgen nicht zugunsten einer libertären Gesellschaft einlenken wird. Und selbst wenn: am Ende ginge es ihr noch so wie dem ehemaligen britischen Drogenbeaufragten Prof. David Nutt, der im Jahr 2008 den Kurs der britischen Drogenpolitik aufgrund der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse kritisierte und daraufhin seines Amtes enthoben wurde. Das wollen wir doch alle nicht!

Highway - Das Cannabismagazin Ausgabe 02/2021

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein